Rundbrief 114 vom 2. Dezember 2022


56000 Inhaftierte ErsatzfreiheitsstrafeFahren ohne Ticket als MassendeliktRepressive DrogenpolitikFreikaufen Köln


Aktionsbündnis gegen Wohnungsnot und Stadtzerstörung, Rundbrief 114

Ersatzfreiheitsstrafe – Kampf gegen die Armen, statt Bekämpfung der Armut

Wer zu einer Geldstrafe verurteilt wird und nicht zahlt, kommt in den Knast. Die betroffenen Frauen und Männer wurden zu einer Geldstrafe verurteilt, weil die angezeigten Delikte mehr oder weniger geringfügig waren: kleine Eigentumsdelikte, Drogenbesitz und Fahren ohne Ticket.

Moderator Stankowski
Martin Stankowski
Kriminologin Bögelein
Nicole Bögelein
Sozialarbeiterin Hastenteufel
Petra Hastenteufel
Ex-Jusitzminister Biesenbach
Peter Biesenbacvh

Moderiert von Martin Stankowski informierten am 30. November 2022 in der Karl-Rahner-Akademie über die Ersatzfreiheitsstrafe Dr. Nicole Bögelein vom Kriminologischen Institut der Kölner Universität, Petra Hastenteufel von der OASE  und der ehemalige NRW-Justizminister Dr. Peter Biesenbach.

Nicole Bögelein vermittelte den Umfang dieses sozialen Skandals: zwar wird an den jeweiligen Stichtagen bekannt, dass „nur“ 10% aller Insassen des Strafvollzugs in der Bundesrepublik  in Haft sind, weil sie eine Geldstrafe nicht bezahlt haben. Aber übers Jahr gesehen sind mehr als die Hälfte aller Neuzugänge in den Strafanstalten sogenannte Ersatzfreiheitsstrafler. Sie sprach von 56.000 Frauen und Männern. Ein sehr deutsches Phänomen, wie Martin Stankowski mit Zahlen aus den europäischen Nachbarländern ergänzen konnte.

Eindringlich verwies Frau Bögelein auf eine Studie, mit der bekannt wurde, dass 15% aller Menschen, die eine Ersatzfreiheitsstrafe verbüßen müssen, suizidgefährdet sind – mit der Folge, dass einige von ihnen in Haft sterben.

Petra Hastenteufel erzählte von Frauen und Männer auf der Straße, die sie als Streetworkerin persönlich kennengelernt hat und deren Überlebensbedingungen eng mit ihrer Kriminalisierung verbunden sind. Eindrücklich war ihr Bericht von einem Forschungsprojekt der Katholischen Fachhochschule zum „Raumnutzungsverhalten von Menschen in Obdachlosigkeit“. Menschen auf der Straße legen täglich Strecken zurück, die Menschen mit einer Wohnung sich gar nicht vorstellen können, weil sie fast alles in den eigenen vier Wänden haben: Schlafplatz, Toilette, Waschgelegenheit, Waschmaschine, Computer, Kühlschrank, Küche, TV usw. Da fallen so viele für die Obdachlosen unbezahlbare KVB-Fahrten an, dass es niemand verwunderte von Nicole Bögelein zu erfahren, dass „Beförderungserschleichung“  20% aller Geldstrafen stellt und insgesamt der Anteil der Obdachlosen an den zu einer Ersatzfreiheitsstrafe Verurteilten extrem hoch ist. https://www.hn-nrw.de/raumnutzungsverhalten-von-menschen-in-obdachlosigkeit/

Bei der letzten Stichtagszählung waren 13,8% aller Gefangenen bei der Inhaftierung ohne festen Wohnsitz. Das bedeutet, dass sie nicht nur wegen nichtbezahlten Geldstrafen sitzen – wie die Armen mit Wohnungen auch, die die Mehrheit in den Gefängnissen stellt.

Dr. Peter Biesenbach hat erklärt, dass der Strafvollzug Straftäter resozialisieren sollte, aber das sei nicht das, was sich Richter bei einer Verurteilung zu einer Geldstrafe vorgestellt hatten. Er hatte schon vor zehn Jahre eine Initiative zur Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafen gestartet, war aber im Bundesrat an den Mehrheitsverhältnissen gescheitert, die von seiner eigenen Partei, der CDU, bestimmt waren.

Er erinnerte, wie Fahren ohne Ticket zu einem Massendelikt werden konnte – nämlich ab der Zeit, als die Schaffner in Bussen und Bahnen abgeschafft wurden. Das wird oft vernachlässigt, wenn davon gesprochen wird, dass im kapitalistischen Wirtschaftssystem Gewinne privatisiert und Verluste sozialisiert werden.

Unerwähnt blieb, dass auch ein anderes Massendelikt dieselbe Geschichte hat. Als die Selbstbedienungsläden entstanden und in den Kaufhäusern immer weniger Verkäuferinnen für immer größere Warenflächen zuständig wurden, eskalierte dieser Diebstahl. Allerdings angesichts der geringen Löhne auch durch das eigenen Personal, und nicht nur durch wohnungslose Arme.

Mindestens die Hälfte aller Obdachlosen ist suchtkrank. Manche wurden durch ihre Sucht obdachlos, andere wurden durch die Obdachlosigkeit süchtig. Als Haschisch, Opium und Heroin in Deutschland wie in den anderen europäischen Ländern Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre auftauchten, wurde mit einer Repressiven Drogenpolitik versucht die Gesellschaft drogenfrei zu machen. Jörn Foegen, der Leiter der JVA Köln, hatte in den 1990er Jahren angesichts des Scheiterns des „war on drugs“ immer wieder öffentlich erklärt, dass er ein Drittel aller Zellen dicht machen könnte, wenn es in Deutschland eine an Leidverminderung orientierte Drogenpolitik geben würde. Die von ihm geforderte Abgabe von „anständigem Heroin“ an die Süchtigen, darunter auch viele Obdachlose, wurde erst 2008 vom Bundestag beschlossen, allerdings profitiert davon nur eine winzige Minderheit. 

Ex-Justizminister Biesenbach stellte fest, was alle an dem Abend Anwesenden wissen: Polizei und Justiz können die Armut und die Suchtkrankheiten nicht bekämpfen.

In der Bundesregierung ist diese Einsicht nicht angekommen. Die Ampel will die Ersatzfreiheitsstrafe nicht abschaffen, sondern nur halbieren. Damit werden weiterhin bundesweit Zehntausende arme Frauen und Männer zum Verbüßen einer Ersatzfreiheitsstrafe in die Gefängnisse einrücken müssen.

Schon bei der minimalen Reform von Hartz IV zum Bürgergeld hat sich gezeigt, dass die FDP mit der CDU stimmte, um zu verhindern, dass die ersten sechs Monaten der Arbeitslosigkeit sanktionsfrei werden.

Da es in den Parlamenten noch keine Mehrheiten für die Entkriminalisierung der Armen gibt, entstehen an der Basis Initiativen, die an diesem Abend in der Karl-Rahner-Akademie auch vorgestellt wurden.

Reinhold Goss hat die grüne Kreismitgliederversammlung aufgefordert, dass die grüne Ratsfraktion ihren Einfluss geltend macht, dass die KVB „keine Strafanzeige aufgrund des Erschleichens von Leistungen nach § 265a StGB (dem Fahren ohne Fahrschein) bis zum Inkrafttreten eines sich aktuell abzeichnenden Bundesgesetzes stellt.“

Der Stadt-Anzeiger hatte am 30. 11. 2022 über Frau Wotzlaw, die Leiterin der JVA Köln berichtet:   „Nichts hält Wotzlaw von einem sogenannten Freiheitsfonds, mit dessen Hilfe Betroffene aus dem Gefängnis freigekauft werden.“ https://www.ksta.de/koeln/schwarzfahren-kvb-koeln-koelner-schon-viermal-im-gefaengnis-374518

Zu Beginn der Veranstaltung hatte Hans Mörtter vom Vringstreff die Gründung des regionalen Freiheitsfonds „Freikaufen Köln“ mit einem Flugblatt bekanntgegeben. Am Ende konnte er von einem Gespräch mit Frau Wotzlaw mitteilen, dass sie sehr wohl bereit ist mitzuhelfen, Ersatzfreiheitsstrafler in der Köln JVA  auszulösen. Die Einnahmen des Abends gingen an „Freikaufen Köln“.
https://vringstreff.de/freikaufen-koeln/

Die Kölner Regionalgruppe des bundesweiten Netzwerks Abolitionismus plant für das kommende Frühjahr eine Veranstaltung mit dem ehemaligen Gefängnisdirektor Thomas Galli zur Abschaffung der Gefängnisse.
https://strafvollzugsarchiv.de/abolitionismus   und https://www.thomas-galli.de/

Verwaltungsreform und OMZ

Am 1.Dezember 2022 wurde im Domforum die Verwaltungsreform der Stadt Köln diskutiert.

Andre Salentin, der Sprecher der Obdachlosen mit Zukunft, hatte die Gelegenheit nach der Zukunft des OMZ zu fragen und auch Häuser für Obdachlose mit Hunden zu fordern. Frau Reker antwortete ihm. Ab Minute 59: https://www.youtube.com/watch?v=n9GGwMrNKGM

Abschließbare Einzelzimmer für alle

Wohnungslosigkeit ist eine Menschenrechtsverletzung

Es ist prima, was die Stadt alles unternimmt, um Flüchtlinge unterzubringen. Wenn die Stadt sich weiterhin nicht traut den Leerstand an Wohnungen zu beschlagnahmen: Warum kann man nicht an all diesen Standorten mit Unterkünften für Flüchtlinge ein paar Container für die Obdachlosen dazustellen – oder sonst wo in der Stadt auf Parkplätzen? Die am 14.Januar 2021 vom Sozialausschuss beschlossene Unterbringung aller Obdachlosen in abschließbaren Einzelzimmern ist möglich.

Herr Prof. Dr. Rau, warum wollen Sie nicht?

Oder warum dürfen Sie nicht?

Luisa Schneider war Referentin auf einem workshop der Stadt Köln zur Bekämpfung der Obdachlosigkeit und hat eindringlich vermittelt wieso gerade auch Obdachlose ein Recht auf Privatsphäre und Intimsphäre haben müssen.
https://www.youtube.com/watch?v=4w1eRJfdn-0  
und
https://www.youtube.com/watch?v=7eVeVbyQNd4

Gesundheit für Wohnungslose

Die CAYA-Praxis bietet wohnungslosen und bedürftigen Menschen in Köln eine medizinische Basisversorgung.
https://www.caya-koeln.de/

Das Gesundheitsamt der Stadt Köln meldete 2020 8.645 Termine mit Wohnungslosen
https://www.report-k.de/gesundheitsamt-der-stadt-koeln-meldet-8-465-medizinische-termine-mit-obdachlosen-2020-145769/

Kölner Arbeitsgemeinschaft „Gesundheit für Wohnungslose“:
Ein Team von ehrenamtlich tätigen Ärzten, Schwestern und Fahrern steht jeden Montag- und Mittwochabend mit einem Krankentransporter des Gesundheitsamtes der Stadt Köln am Appellhofplatz und bietet medizinische Erstversorgung.
http://gesundheitfürwohnungslose.de/

Sendungen, Meldungen, Nachrichten

Nachtcafé: Endstation Straße? Von Menschen ohne Zuhause
https://www.youtube.com/watch?v=ywGPmbiX2Ss

Berlin: Ausgerechnet unter einer rot-rot-grünen Regierung wurden zahlreiche linke Projekte geräumt. Welche Zukunft haben Freiräume in der Stadt?
https://taz.de/Linke-Hausprojekte-in-Berlin/!5894992&s=Marie+Frank/

Sozialwohnungsbau
Auch der Spitzenverband der Wohnungswirtschaft GdW erwartet, dass Zehntausende neue Mietwohnungen nicht wie geplant gebaut werden können. Interne Umfragen ließen darauf schließen, dass „etwa 70 Prozent aller geplanten Projekte entweder komplett abgesagt“ oder „zumindest für längere Zeit zurückgestellt“ würden, sagte GdW-Präsident Axel Gedaschko der „Augsburger Allgemeinen“.
https://www.ksta.de/wirtschaft/kommunen-warnen-vor-drastischem-stopp-von-sozialwohnungsbau-374322

Zur Erinnerung: Dirk Riße berichtete am 8.9.2021 über Armut und Obdachlosigkeit in Köln am Beispiel Wiener Platz:
https://www.ksta.de/koeln/armut-in-koeln-die-menschen-haben-nichts-mehr-zu-essen-286505?cb=1669729045657

Amtliche Informationen zum Grundstücksmarkt in NRW
https://www.boris.nrw.de/boris-nrw/?lang=de

Termine

03.12.2022, 11 – 13 Uhr, Kundgebung gegen Leerstand: „Wohnungen für Obdachlose und Geflüchtete“, Ecke Berrenrather Str. / Friedrich Engels Straße

10.12.2022,13:00, Demo „Genug ist genug“, Ottoplatz

15.12.2020 Bundesweiter Aktionstag von MietenStopp

Für eine Stadt ohne Obdachlosigkeit
Für eine Stadt ohne Zwangsräumungen
Für eine Stadt ohne Drogentote
Für eine Stadt ohne Gewalt gegen Frauen und Kinder
Für eine Stadt ohne Abschiebungen
Für eine Stadt ohne Armut

3. Dezember 2022
Klaus Jünschke und Rainer Kippe
https://wohnungsnot.koeln

PS
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